Verwendung in dieser AnthologieKritiker und Unterstützer von „Cancel Culture“eine Meinungsverschiedenheit, die die Redaktion als „notwendig“ bezeichnet. Mit dieser Formulierung wird, zumindest implizit, eine gewisse Rechtfertigung für die Aufhebungspraxis geliefert – ein Eindruck, der durch die Lektüre dieses Buches bestätigt wird.
In der Einleitung beziehen sich die Herausgeber ausschließlich auf die Streichung von Literatur, doch in den folgenden Aufsätzen wird mehr als deutlich, dass dieses Phänomen auch viele andere Bereiche betrifft: Musik, Theater, bildende Kunst, Wissenschaft, den öffentlichen Raum in Form von Denkmälern und Straßennamen und natürlich Politik. Da weder die Herausgeber noch die Autoren eine Definition der Aufhebung liefern, möchte der Rezensent selbst an dieser Stelle versuchen, diesen vagen und amorphen Begriff zu klären.
Beim Opt-Out geht es immer darum, Beiträge oder Wörter zu sperren, die für die Öffentlichkeit nicht mehr informativ, beleidigend oder politisch inkorrekt sind. Manchmal sind genau die Menschen betroffen, die solche Einstellungen vertreten oder Formulierungen verwenden. Im Extremfall kann man auch dann abgeschrieben werden, wenn man sich dies nicht zuschulden kommen lässt, aber nur bestimmte Eigenschaften als Person mitbringt.
Beispielsweise wird argumentiert, dass es weißen Männern nicht erlaubt sein sollte, ein Gedicht einer schwarzen Frau zu übersetzen (wie im Fall von Amanda Gorman, gespielt von Daniela Strigl). Oder Kulturschaffende werden entlassen, nur weil sie Russen sind. Russophobie kann so weit gehen, dass Tschaikowskys Sinfonien als „unhörbar und unspielbar“ und Dostojewskis Romane als „unlesbar“ verurteilt werden. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann kritisiert diese Auswüchse der „Stornierungskultur“.
Meistens eher „private“ als staatlich verordnete Zensur
In den meisten Fällen kommt der Impuls zum Abbruch „von unten“,also aus der Öffentlichkeit oder aus den Reihen der Künstler oder Wissenschaftler selbst.Aus diesem Grund ist die Zensur in erster Linie „privat“ und nicht staatlich verordnet, obwohl staatliche Stellen häufig Hilfestellung leisten, wenn es um Universitätsveranstaltungen oder Straßenumbenennungen geht.
Zusätzlich zu den beiden bereits erwähnten Autoren versammelten sich zehn weitere, um ihre Ansichten zum Phänomen der Stornierung darzulegen. Die meisten von ihnen sind Journalisten, aber es gibt auch einige humanistische Forscher. Beeindruckend ist, dass niemand, der von der Absage betroffen ist, etwas zu sagen hat. Die meisten Autoren verwenden das Geschlecht und oft Sternchen, um zu vermeiden, dass sie Begriffe buchstabieren müssen, die sie als anstößig empfinden. Dies geht teilweise zu Lasten der Verständlichkeit des Textes. Es sollte jedem Leser klar sein, dass „N*“ für das Wort „Neger“ steht, was „f*“ bedeutet, kann jedoch nur der sprachlich sehr sensible Leser verstehen.
Wer den Inhalt des Stils erschließt, täuscht sich nicht: Die überwiegende Mehrheit der Autoren zeigt ein großes Verständnis für die Aufhebung und ihre Protagonisten. Teilweise ist die Absage gar nicht so schlimm und die Kritik daran zumindest teilweise übertrieben (Mithu Sanyal, Johannes Schneider). In einigen Fällen ist es im Wesentlichen unumstritten, aber nur in einigen Fällen (Jürgen Kaube, Lothar Müller). teilweise als notwendig und gerechtfertigt beschrieben (Asal Dardan, Hanna Engelmeier). INSELnochmalRedakteurin Anna-Lena Scholz interpretiert die Absagekultur in der Wissenschaft sogar nicht als Bedrohung der akademischen Freiheit, sondern als Zeichen eines „beharrlichen Interesses an Gültigkeit“.
Die Liste der zu löschenden Autoren wird immer länger

Dass besorgte Wissenschaftler diese Ansicht nicht teilen, hat insbesondere die Gründung des „Academic Freedom Network“ im Jahr 2021 gezeigt. Insbesondere der Philosoph Konrad Paul Liessmann hat die Abbruchkultur als Angriff auf die Errungenschaften der Wissenschaft deutlich und unmissverständlich kritisiert der Aufklärung und „in der Idee der Kultur überhaupt“ sowie in der Schwächung der Vernunft. Daher wurde beschlossen, von Anfang an Widerstand zu leisten.
Versöhnungsversuche (wie der von Johannes Schneider) durch den Hinweis, dass von staatlicher Zensur keine Rede sei und dass z.B. Dass die inkriminierten Bücher weiterhin „unrein“ erhältlich sind (wenn auch nur bei Antiquitätenhändlern), wird dem Ernst der Lage nicht gerecht. Denn wenn man sich erst einmal auf Absagen einlässt, fällt es zunächst schwer, dabei zu bleiben. Dies zeigt sich bereits in der ständig wachsenden Liste der Autoren, deren Werke gelöscht wurden oder noch gelöscht werden müssen.
Allein dieser Band befasst sich mit so unterschiedlichen Autoren wie Astrid Lindgren, Enid Blyton, Michael Ende, Karl May, J.K. Rowling, Mark Twain, Heinrich von Kleist, William Shakespeare und Immanuel Kant. Diese Liste könnte leicht um Leute wie Roald Dahl oder Ian Fleming erweitert werden.
Wer hat das Recht zu entscheiden, wer abgesagt wird?
Dabei sind nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ keine Grenzen gesetzt: Werden heute vermeintlich rassistische oder frauenfeindliche Äußerungen ausgeschlossen, kann es sich morgen bereits um konservative oder „rechte“ Äußerungen handeln. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wo die Sprachpolizei das Recht hat zu entscheiden, was oder wer gestrichen werden soll, also was von der Öffentlichkeit erwartet wird – und was nicht.
Auf jeden Fall scheint es angesichts der aktuellen Situation verfrüht, Ijoma Mangolds „Kulturkrieg gegen die Stornokultur“ für beendet zu erklären, nur weil dieses Phänomen und die dahinter stehende Geisteshaltung inzwischen als ein Begriff bezeichnet werden kann. Dass der „hegemoniale Diskurs“ der Protagonisten der Annullierungskultur als solcher anerkannt, benannt und kritisiert wird, ist sicherlich ein hoffnungsvolles Zeichen, aber nur der erste Schritt hin zu einer Rückkehr zur Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit.
Dieser Kulturkampf hat gerade erst begonnen. Besonders deutlich wird dies in den Beiträgen dieses Bandes, die die Stornokultur bekräftigen. Dieselben Artikel sind auch und vor allem für ausgesprochene Untergangsgegner lesenswert – sie geben Einblick in die Beweggründe der Protagonisten der Wunderkultur. Und diese Beweggründe müssen verstanden werden, wenn wir den oben erwähnten Kulturkrieg gewinnen wollen.
Identitätspolitik als Waffe im Kampf um Verteilung
Zu diesen Motiven gehört die moralische Arroganz, anderen vorschreiben zu wollen, was sie lesen können und was nicht. Die deutlichste Stimme in dieser Hinsicht ist Asal Dardan, der glaubt, dass anständige Menschen heutzutage Bücher wie „Jim Knopf“ nicht mehr lesen wollen. Es ist nicht schwer, zwischen den Zeilen zu lesen, dass andere, die Unanständigen, nicht mehr die Bücher lesen sollten, die den Anständigen am Herzen liegen sollten. Nur so kann man Kindern den „Stress“ bestimmter Wörter ersparen und sie vor „Stereotypisierungen“ (wie sie Asal Dardan in diesem Buch von Michael Ende identifiziert) bewahren.
Es bleibt abzuwarten, inwieweit dieser Versuch, andere zu schützen, mit einer Portion kapriziösem Selbstmitleid aufgrund eingebildeter oder tatsächlicher Beleidigungen und dem Impuls zur Vergeltung einhergeht. Es bleibt auch abzuwarten, ob es pädagogisch sinnvoll ist, Kinder in Watte zu wickeln und sie vor allen möglichen negativen Erfahrungen zu schützen – oder ob sie mit den Realitäten der Welt konfrontiert und bei der Verarbeitung unterstützt werden müssen.
Neid, getarnt als politisch bewusste Besorgnis
Zweitens kann die Absage teilweise auch eine Art Rache an den kleinen Geistern sein. Diejenigen, deren intellektuelle und künstlerische Fähigkeiten nicht ausreichen, um Werke von der Größenordnung der Kleist-Romane zu schaffen, mögen dennoch ein gewisses Überlegenheitsgefühl haben, wenn es darum geht, diese Werke als anstößig und veraltet anzuprangern – oder sie vielleicht sogar politisch korrekt zu „vorstellen“. Letzteres lobt Hanna Engelmeier ausdrücklich am Beispiel von Dorothee Elmigers „Adaption“ zweier Kleist-Romane.
Und schließlich spielen auch konkrete wirtschaftliche Interessen eine Rolle, insbesondere wenn es um identitätspolitisch motivierte Aufhebungen geht. Darauf weist Daniela Strigl hin, wenn sie die Forderung kritisiert, dass der Übersetzer eines literarischen Werkes mit seinem Autor identisch sein muss: „Der antagonistische Gedanke und die Empörung erscheinen unter dem Deckmantel eines politisch wachsamen Anliegens.“ Behauptungen über politische Identität dienen als Waffe in einem Umverteilungskampf, der fortan nach anderen Regeln bestimmt wird.“
Laut Konrad Paul Liessmann ist die Verweigerungskultur generell von weniger edlen Maßstäben geprägt. Denn letztlich gehe es darum, „Machtansprüche zu artikulieren und durchzusetzen“. Deshalb „zeigte sich die Aufhebungskultur oft unzufrieden mit dem edlen Anspruch der Moral, selbstgefällig und träge im Denken, aber bewusst der Macht.“ Auch die Protagonisten und Apologeten dieser „Kultur“, die man am besten als Mangel an Kultur beschreiben könnte, werden die Einsicht Oscar Wildes ignorieren: „Es gibt keine moralischen oder unmoralischen Bücher.“ Bücher sind entweder gut geschrieben oder schlecht geschrieben, mehr nicht.“
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Prof. Dr. Fritz Sollnerlehrt Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Universität Ilmenau und ist Mitglied der„Online-Studienfreiheit e. V.“
Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Georg Oswald, Jo Lendle (Hrsg.): Canceln. Ein notwendiger Kampf. Carl Hanser Verlag, München 2023, Hardcover, 224 Seiten, 22 €.
JF 20/23